TEIL 2 DER SERIE „WO ICH HINGEHÖRE"
Karpathos: Der Wind, der Wind …
Landeanflug auf Karpathos: Der Wind zerrt an den Flügeln der Düsenmaschine ebenso wie an den Nerven der Passagiere. Das Flugzeug gleicht die leichten Stöße aus, die ihm der Meltemi zur Begrüßung versetzt. Dieser trockene ägäische Nordwind hat Karpathos während der Sommermonate fest im Griff.
„Die Windreiche“ (άνεμόεις) nannte angeblich schon Homer das 50 km lange, gebirgige Eiland, das zwischen Rhodos und Kreta im tiefblauen Ägäischen Meer liegt. Mit einem Ruck setzt der Urlaubsflieger auf, die Triebwerke geben dröhnend Gegenschub, vereinzelte leise Schreckschreie in den Sitzreihen. Doch die Landung ist wieder einmal geglückt, der Applaus für die Piloten kommt von Herzen.
Waghalsige Meeresritte in der Teufelsbucht
Im Süden von Karpathos kann man Surfern zusehen, wie sie ihr Glück versuchen, den Wind zu bezwingen – von der flachen Lagune direkt neben dem Flughafen, wo sich die Anfänger tummeln und alle paar Meter ins seichte Wasser plumpsen, bis hin zu den benachbarten Buchten, die Devil’s Bay und Paradise Bay heißen. Hier saust der Meltemi von den nahen, kahlen Bergen abwärts noch einmal stärker über das Meer und bläht die Segel der Könner, die mit einem Affenzahn über das Meer zischen und sich an waghalsigen Wendemanövern versuchen.

Gäste, die das Echte suchen
Wir nehmen bei Maria unser Mietauto in Empfang und treten die Fahrt auf der gut ausgebauten Straße Richtung Norden an. Karpathos hat sich in den vergangenen Jahren touristisch gut entwickelt, ist aber eine Liebhaberinsel geblieben. Zu Santorin, Kos oder Rhodos verhält sich die Dodekanes-Insel wie ein Osttiroler Bergdorf zu Hallstatt oder Zell am See. 6000 Einwohner verteilen sich auf ein paar Ortschaften, wovon die größte die Inselhauptstadt ist. Sie heißt offiziell ebenfalls Karpathos, wird von den Einheimischen aber seit jeher Pigadia genannt. Diese Insel ist urtümlicher als andere. Im abgeschiedenen Norden der Windreichen, wo sich Bergdörfer an steile Hänge schmiegen, locken Kirchweihfeste sogar Griechen aus Athen an, die das Echte, Traditionelle suchen.

Orientalische Melodien, hypnotische Rhythmen
Die karpathische Musik, die man dabei zu hören bekommt, klingt mit ihren orientalischen Harmonien und schrägen Melodiesprüngen ziemlich fremdartig. Die Hauptrolle in dieser Musik hat die Lyra inne. Die Spieler klemmen sich die Kniegeige zwischen die Beine und streichen sie rhythmisch mit einem Bogen, an dem Schellen angebracht sind. Begleitet wird die Lyra von einer Laute und manchmal auch einem Dudelsack aus Ziegenbalg. Ein paar Takte auf diesen urigen Instrumenten, ein paar Liedzeilen, die aus sturmgegerbten Kehlen mehr in den Wind gerufen als gesungen werden, und man fühlt sich um Jahrhunderte zurückversetzt. Bei Festen werden zu diesen hypnotischen Klängen bis in die frühen Morgenstunden traditionelle Gruppentänze getanzt.


Entspannte Badetage in Lefkos
Aber noch ist es nicht so weit. Nach kurvenreicher Fahrt über einen Pass sehen wir Lefkos unter uns: Die ehemalige Fischersiedlung hat sich mit mehreren Stränden für jeden Geschmack zu einem beliebten Badeort gemausert. Im flachen Wasser des Naturhafens tummeln sich Tagesausflügler und Familien mit kleinen Kindern. In den frühen 1990ern standen gerade Mal vier Häuser und ein Kapellchen hier, in der Zwischenzeit ist die Bucht lose eingefasst von Tavernen, Apartmenthäusern und Cafés. Große Hotels gibt es nicht, auch keine Motorboote oder Jet-Skis. Die See draußen ist meist zu rau. In der windgeschützten Bucht rauscht das Wasser an den flachen, sandigen Strand. Man hört vor allem Kinderstimmen über das Wasser hallen und das Tock-Tock vom Strandtennis.

Die große Lokomotive
Noch eine Kurve, und wir sind da: am langgezogenen Frangolimionas-Strand von Lefkos, wo sich die vom Wind angeschobenen Wellen knie- bis hüfthoch türmen, bevor sie am Ufersaum brechen. Der Name stammt von Kreuzfahrern, Franken, die im Mittelalter auf der vorgelagerten Insel Quartier Sokastro genommen hatten. Unser Gastgeber Vassili kommt uns mit einem lauten, sonoren „Hello, my friends!“ entgegen, als wir die Terrasse seiner Taverne betreten. Auf schlecht geölten Grillspießen drehen sich quietschend die Hähnchen, die dienstags auf der Speisekarte stehen. Wir beziehen eines der spartanischen Studios über der Taverne; neben uns hat der pensionierte Architekt Dieter aus Berlin Quartier genommen: Er wuchs auf Sylt auf und liebt das Geräusch der Brandung, das einen hier nachts in den Schlaf wiegt und morgens als Erstes begrüßt. Es klingt wie eine alte, unaufhörlich dampfende und schwer schnaufende Lokomotive, wenn das Wasser Sand und Schotter wieder und wieder wendet. Dieses Geräusch und das Brausen und Rauschen des Windes werden uns die nächsten beiden Wochen auf Schritt und Tritt begleiten, ohne dass wir noch darauf achten.

Glockengebimmel und unvermutete Stille
Wenn sich die Sonne langsam senkt und die Hitze des Tages abnimmt, drehe ich meine Joggingrunde auf den Staubstraßen im Hinterland. Hier werden seit der Wirtschaftskrise wieder Wein angebaut und Tomaten gewässert. Der Hirte treibt seine Herde über die Weiden, die im August bereits völlig vertrocknet sind. Jedes der wohl 100 Schafe trägt eine Glocke um den Hals, dumpfes Gebimmel klingt über die dürre Ebene. Jene Tiere, die sich zu weit weg wagen, bringt der Hirte mit kehligen Rufen auf den rechten Weg zurück. Ich laufe weiter landeinwärts. Und dort, plötzlich, im Windschatten eines Felsens, vor dem ein paar wilde Mastixsträucher wachsen, tritt das Unvermutete ein: Es ist für einen kurzen Augenblick absolut kein Laut zu vernehmen. Diese Stille ist umso erstaunlicher, als sie bereits nach ein paar Schritten wieder aufgelöst wird vom Wind, der über die Hochfläche streicht und rauschend in die Äste und Zweige der Büsche und Bäume fasst.



Über den Autor
Werner Schandor ist Texter und Autor in Graz und verbringt seit 20 Jahren seinen Sommerurlaub in Griechenland. Karpathos ist ihm dabei besonders ans Herz gewachsen. Neun Mal hat es ihn bisher dorthin gezogen.
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